Die Stube oder eine Familienchronik

"Anno 1850 hat mein Urgrossvater mütterlicherseits das Haus gebaut. Das Tuffgestein der Mauern wurde im nahen Steinbruch am Burghügel Rosenegg gebrochen. Der Hügel ist von der Stube aus sichtbar. Heute ist der Steinbruch verwachsen und stillgelegt.

Als Knaben hörten wir von dort noch die Detonationen beim Sprengen. Die Tannendielen und die Täferung der Stube lieferten die umliegenden Wälder.

Der Urgrossvater und seine Frau waren kinderlos. Sie haben das Kind einer ledigen Tante, einer Schwester der Ehefrau, adoptiert, und zogen mit Maria, so hiess das uneheliche Kind, ins neuerbaute Haus im Butteln ein. Vorher lebten die Urahnen im "Hof im Acker". Das Haus steht am sogenannten Kirchweg, der im Nachbardorf Arlen nach Ramsen führt, und war zu jener Zeit ein Gasthaus. Es heisst darum heute noch "zum Kranz". Mein Vater, 1879 geboren, erinnerte sich noch an die Hochzeit des Dorfschullehrers damals in der Wirtsstube. Auf dem Ofen sassen Zigeuner und musizierten. Er hat mir das oft erzählt, es muss eine seiner ersten Kindheitserinnerungen gewesen sein. Jene Hochzeit fand im Jahre 1884 statt. Vorher, im Jahre 1878 heiratete mein Grossvater, Sohn eines Webers, die Tochter des Hauses, Maria. Mein Grossvater hat das Schlosserhandwerk gelernt und in Bregenz am Bodensee die Gesellenjahre verbracht. Einer seiner Freunde von dort besuchte ihn noch hie und da, man nannte ihn den Bregenzer-Jakob. Er trug eine silberne Uhrenkette über dem Bauch mit einem grossen goldenen Taler.

Als die Brauereien im Dorf anfingen Bier zu brauen, liessen meine Vorfahren die Weinwirtschaft eingehen. Mein Grossvater baute eine Schlosserwerkstätte mit Esse und Ambos ans Haus an. Der Blasbalg steht heute noch auf dem Dachboden. Meine Grosseltern hatten drei Söhne. Der Älteste war mein Vater. Er verheiratete sich mit einer Bauerntochter aus dem "Gässli" im Dorf. Ihr Vater stammt aus dem Hof "Rosengarten" am Weg nach Wilen. Neben der Stube war die Stubenkammer, dort schliefen Grossvater und Grossmutter. Zwischen ihren Betten stand mein kleines Bettstättchen. An der Längsseite hatte es so Stäbchengehege, damit ich nicht aus dem Bett falle. Der Grossvater hat sogar noch mit einem Einsteckbrett das Aussteigen ganz verhindert. Wenn ich nachts Angst hatte, kroch ich zu der Grossmutter ins Bett. Einmal lag ich ganz im Nassen. Ich hatte ins Bett gemacht. Sonst aber waren wir Kinder in der Stubenkammer und Stube ohne jede Sorge und glücklich. Über dem Bett der Grossmutter ging in goldenem Rahmen unter Glas ihr Hochzeitskranz mit dem Spruch:

"Der Herr vom Himmel blick euch an, damit ihr möget blühen,
Er führ euch auf der schmalen Bahn durch alle Pilgermühen,
bis ihr zuletzt euch niedersetzt als sieg gekrönte Gatten,
im ewgen Palmenschatten."

1925 ist die Grossmutter gestorben. Man legte die Tote in ein anderes Zimmer. Die Leute und Kinder vom Dorf kamen und sahen die tote Frau an und besprengten sie mit Weihwasser. Als kleiner Knabe lag mir das Amt ob, den grossen Tisch aus Buchenholz in der Stube zum Essen bereit zu machen. Löffel, Gabeln, Messer aus der Schublade im Stubenkasten nehmen, hinlegen und Gläser aufstellen. Der Grossvater hatte ein grosses Kelchglas und sass oben am Tisch. Der Vater ein kleineres mit braunen Einlagen. Der Most war im Keller unter der Stube. Ich musste 8 Gedecke aufstellen, für den Grossvater, den Vater, die Mutter, die Schwester, drei Brüder und mich.

An einem Abend war mein Grossvater sehr krank. Die Vetter kamen, ihn zu besuchen. Mein Grossvater kannte viele Lieder, er hat gern gesungen. Aus der Stubenkammer hörte ich ihn einen Vers aufsagen: "Nur die Hoffnung nicht verloren, Frühling wird es doch einmal". In jener Zeit schliefen wir Buben in der Bubenkammer im oberen Stock. Nachts hörte ich Gepolter, mein Grossvater war in jener Nacht gestorben. Beim Begräbnis weinte auch ich wie die Andern. Jetzt waren wir nur noch sieben am Tisch. - Unser Haus liegt nahe an der deutschen Grenze. Meine Mutter erzählte mir aus der Zeit des ersten Weltkrieges. Flüchtlinge kamen damals oft in unsere Stube. Der Vater hat sie alle aufgenommen. Einmal seien sogar zwei Russen auf der Ofenkunst gesessen, da habe sie so ganz allein in der Stube nachts Angst bekommen.

Wir Kinder wurden erwachsen und der 2. Weltkrieg war ausgebrochen. Wieder kamen Flüchtlinge über die Grenze ins Haus. Zuerst waren es die armen Juden, denen man draussen Haus und Hof und alles nahm. Ein Fabrikbesitzer aus Düsseldorf und seine Frau, eine Sängerin, blieben einige Monate bei uns. Sie kamen mit leeren Händen. Die Rucksäcke liessen sie in Singen in der Gaststätte zurück. Ich bin dann dorthin gefahren und hab sie per Bahnpost nach Schaffhausen spediert. Ein Farbengeschäft dort hat mir das Einpackmaterial geliefert. Der Mann wusste aber nicht, für wen es war. Es gab schöne Stunden in unserer Stube. Mein Bruder und ich spielten an Weihnachten Blockflöte und die Frau hat dazu gesungen. Später wollten sie weiter nach Israel fliehen, sind aber beide auf der Flucht tragisch ums Leben gekommen. Der Krieg dauerte lange. Einmal kam ich spät nach Hause von der Arbeit. Im Hause schlief alles. Im Nachthemd schaute ich durch einen Türspalt ins Freie, und sah zwei dunkle Gestalten auf der Strasse vorbeihuschen. Ich stieg die Treppe hinunter und sah die Beiden im Gebüsch verschwinden.

Ich ahnte etwas, lief zum Gebüsch, wo die beiden sich versteckt hatten und sagte: "Ihr seid in der Schweiz!" Es waren Franzosen. Sie sagten etwas von Camerad und machten Zeichen. Nach kurzer Zeit sassen 6 Franzosen am Tisch in unserer Stube. Die Mutter machte heisse Milch und gab ihnen Brot. Sie parlierten drauflos und waren überglücklich. Wir, Vater und Mutter, Geschwister und ich gingen wieder ins Bett. Am Morgen schliefen alle sechs auf dem Stubenboden. Gegen Ende Krieg kamen dann auch noch deutsche Flüchtlinge, die Angst hatten.

Als wir 1952 an Weihnachten alle in der Stube beisammen waren, die Mutter lag krank in der Stubenkammer, fiel sie plötzlich in Ohnmacht und starb. Das waren meine schwersten Stunden. Nach drei Tagen trug man sie durch die Stube im Sarg aus dem Haus zum Friedhof. 8 Jahre später starb auch der Vater. Später war ich mit meiner Tante allein in der Stube, dann starb auch sie. Jetzt wo ich dies alles aufschreibe, sitze ich ganz allein in der Stube. Bald einmal ist auch meine Uhr abgelaufen, dann steht der Buchenholztisch verlassen unter den Tannendielen.

- Geschlechter kommen, Geschlechter gehen heisst es im Buch Kobelet"